Was heisst es, wenn Schätzungen stark voneinander abweichen?
Es passiert häufig, dass verschiedene Schätzungen sehr unterschiedlich ausfallen. Dies kann aus verschiedenen Gründen geschehen.
Die Aufgabe wurde nicht (gleich) verstanden
Dies ist der üblichste Grund, das Projekt und dessen Anforderungen wurden nicht in der ganzen Breite erfasst, oder gewisse Faktoren sind vergessen worden, z.B.:
- Zertifizierungsaufwände (CE, UL, EMV, Maschinenrichtlinie...) inkl. der damit verbundenen Dokumentation und Drittkosten
- Produktqualität (Robustheit/ Stabilität), d.h. die Fehlerbehandlung wird weggelassen oder ist minimal und nur der Geradeausfall wird implementiert: so führen Eingabefehler des Benutzers, Fehler in den angeschlossenen Systemen, Montagefehler, Alterung, Bauelementetoleranzen etc. zu "unerwartetem Verhalten" und damit zu Zusatzkosten in der Form von Änderungs- und Servicekosten oder noch schlimmer zu Garantiefällen
- Integration in das zu steuernde Gerät, d.h. die Kosten für das gemeinsame Debuggen des gesamten Systemes (keine Spezifikation ist so klar und unmissverständlich, dass die Integration reibungslos verläuft)
- Qualitätssicherung der Hardware und vor allem der Software durch sinnvolles, risikobasiertes Testen (wenn möglich automatisch) und Review der kritischen Designs
- Dokumentation und Design in einem sinnvollen Umfang, welche die Wartung und Erweiterbarkeit des Produktes ohne grosse Kosten während seines ganzen Lebens zulassen
Die Verrechnungsmodelle sind unterschiedlich
Einerseits kann eine Kostenschätzung vom minimalen Projektumfang und von unklaren Anforderungen ausgehen und dann nach Aufwand/ iterativ/ agil durchgeführt werden. Dies kann zu Überraschungen und Nachverhandlungen führen, wenn es sich herausstellt, dass es zwischen Entwickler und den anderen Stakeholdern Missverständnisse über die Ziele gab.
Andererseits können alle Stakeholder sich über die Anforderungen klar sein, dass das Projekt zum Fixpreis durchgeführt werden kann. Dies führt, solange sich nicht neue Anforderungen auftun, zu keinen Überraschungen.
Ein Beispiel aus der Praxis zeigt, dass agiles Near-Shoring teurer zu stehen kommen kann als Fixpreis in der Schweiz.
Es liegen andere Geschäftsmodelle zugrunde
Es gibt Lock-In (Kostenfalle/ Abhängigkeit), in dem ein "politischer" Preis unter den realen Kosten für die Entwicklung offeriert wird. Der Gewinn wird im Nachhinein mehr oder weniger versteckt durch erhöhte Margen bei der Produktion der Elektronik oder für technische Änderungen an Soft- und Hardware erzielt. Der Kunde bleibt vom Anbieter abhängig, da er für seinen Preis nur das fertige Produkt oder den compilierten Binärcode bekommt.
Wenn eine Steuerung Herstellkosten inkl. Herstellmarge von 100 CHF hat und dazu eine versteckte Marge von 20% geschlagen würde, dann kann die versteckte Marge bei einer moderaten Jahresstückzahl von 1000 Stück über die Produktlebensdauer von zehn Jahren bereits 200'000 CHF ausmachen. Diese versteckte Marge wäre dann die Hälfte der Entwicklungskosten von 400'000 CHF, bei nur schon 2000 Stück pro Jahr würde sie bereits die ganzen Entwicklungskosten erreichen.
Das andere Modell ist das offene Geschäftsmodell, in dem der Kunden alles geistige Eigentum bekommt und in dem die Kosten für die Entwicklung transparent ausgewiesen werden. Dadurch werden die Kosten über die Lebensdauer geringer, da keine versteckten Margen abgezweigt werden können. Denn der Kunde kann mit den Quellcodes, den Schemas und den Layoutunterlagen plus den dazu gehörigen Dokumentationen selbst oder mit einem Partner seiner Wahl das Produkt herstellen, betreiben und weiterentwickeln.